Der nachfolgende Artikel entstammt dem Programmheft zur Deutschen Meisterschaft der Formationen vom 19.10.1991 in Köln
Ausrichter : TSC Schwarz-Gelb Aachen e.V.
An diesem Tag wurde das A-Team des TSC Schwarz-Gelb Aachen e.V.
das erste Mal Deutscher Meister.
Die optisch wohl schönste Ausprägung des Tanzsports, die Formationstänze, sind nicht neu. Sie sind die Tänze aus vergangenen Zeiten, die Tänze der geschlossenen Gruppen.
Nur an die letzten und bekanntesten jener Zeit, die Quadrillen und Francaisen, sei hier erinnert, die sich wegen ihrer Beliebtheit bei der älteren Generation, wenn auch nur vereinzelt, noch in die Gegenwart hinübergerettet haben. Von ihnen soll hier nicht die Rede sein, doch von einer an sie anknüpfenden Art, die Altes mit Neuem harmonisch verbindet.
Der Formationstanz, als eine neue Disziplin im Turniersport, wurde in Deutschland erst 1962 aus der Taufe gehoben, sodass man anzunehmen geneigt ist, seine Geschichte hierzulande sei jüngeren Datums, zumal er in England bereits 1937 kreiert wurde. Diese mehrfach geäußerte Meinung mancher Experten mag auch hier korrigiert und richtig gestellt werden. Es ist offenbar kaum bekannt, dass die ersten vergleichbaren Ansätze zum Formationstanz hierzulande wesentlich früher liegen, als gemeinhin angenommen wird und eine ganze Decade eher anzusetzen sind als in England.
Vorbilder waren in Deutschland durch die Vergangenheit in reicher Zahl gegeben.
Auch jene turbulente Nachkriegszeit des Berlins der 20er Jahre mochte mit ihren Nelson- und Haller-Girls und den perfektionierten anglo-amerikanischen Revuen eines Tiller und Ziegfeld, bei denen das tänzerische Moment wieder vordergründig wurde, manche Anregung gegeben haben. Bei der Apostrophierung jener Jahre des rasenden Rhythmus, des Taumels und Tempos muss erinnert werden an jene Amateure der ersten Stunde, an Belling und Bernheim, an Collini und Cucuel, an Daniels und Döring, an Dr. Kirberg und Karmann, an Leiser und Lenius, an Magner und von Morgen, an Nansen und Neumann und andere mehr, die mit ersten Clubgründungen versuchten, wieder Ruhe und Einfachheit, Ästhetik und Harmonie in das tänzerische Chaos des Nachkriegs-Berlins zu bringen.
Nach einem mehr als positiven Echo wurde sie dann anlässlich der im Herbst 1922 im Berliner Zoo veranstalteten Spitzenmesse der Öffentlichkeit unter frenetischem Beifall vorgeführt. Und Reinhold Sommer musste sie immer und immer wieder zeigen, weil sie zeitlos auch Jahre danach stets von neuem begeistert aufgenommen wurde, natürlich auch auf der rühmlich bekannt gewordenen „Berliner Turn- und Sportwoche" im Juni 1924 und auf weiteren Großveranstaltungen nachfolgender Zeit. Aber nicht nur in Berlin fand Sommer's Schöpfung größten Widerhall, sondern beispielsweise auch in Hamburg bei dem renommierten Atlantic-Boston-Club, wie auch in anderen Städten des Reiches hatte die Tango-Quadrille gleichgroßen Erfolg.
Wegen seiner fast revolutionären und neuen Ideen hatte Sommer mit seinen allzu konservativ einge stellten Kollegen manchen Strauß auszufechten. Er brachte das nicht nur mündlich zum Ausdruck, sondern er konnte mitunter eine recht spitze Feder führen und machte sich selbst zum Anwalt seiner Ideen und Neuschöpfungen. „Es gibt feindlich gesinnte", so schrieb er, „die im modernen Tanz das Sinnbild einer verderbten Zeit sehen und ihn verdammen ... Laßt der Tango-Quadrille ihren Platz, die vermittelnd eine Brücke bildet von der alten zur neuen Zeit. Das Alte ehren, das Neue fördern, das ist ihr Zweck."
Herbert von Spoenla, Präsident des RfT und RPG von 1924-1935 und leider zu früh verstorbenes Ehrenmitglied des DTV, schreibt darüber noch 1963: „Besonders ansprechend wirkte der Stern, zu dem sich die acht Tänzer und Tänzerinnen im Flusse der Bewegung gruppierten, um sogleich zu einer andersgearteten Konstellation auseinanderzugleiten. Die Tango-Quadrille war eine kunstvolle Synthese von alter und neuer Form und neuem Tanz, ihrem Wesen nach bereits Formationstanz im heutigen Sinne". Er mußte es wissen, denn er gehörte zu den wenigen, die entsprechende Vergleichsmöglichkeiten aus eigener Anschauung besaßen.
Von dem untadeligen Grandseigneur und der überragenden Präsidentenpersönlichkeit eines Herbert von Spoenla, der wir soviel zu verdanken haben, wird man nach einem Nachruf leider vergebens suchen.
Doch zurück zur Tango-Quadrille. Diese tänzerische Inszenierung des genialen Reinhold Sommer anno 1922 kann daher mit Recht als Geburtsjahr des Formationstanzes nicht nur für Deutschland angesehen werden.
Doch Reinhold Sommer blieb in seiner Entwicklung nicht stehen. Er suchte nach neuen Eindrücken und Ideen, nach Verbesserung und Modernisierung. So war Sommer auch an den Brennpunkten tanzsportlichen Geschehens im Ausland zu finden, die sich nach Kriegsende 1918 mehr und mehr von Frankreich nach England verlagert hatten. Er war neben seinem Kollegen Fritz Conradi, Dortmund, einer der ersten, die schon früh Blackpool und London besuchten. Von London aus begann bekanntlich nach der berühmten „Great Conference" vom 14. April 1929 der englische Stil seinen Siegeszug über alle Kontinente. Sommer, der auch als Wertungsrichter mehrfach u.a. nach England und Dänemark bereits damals eingeladen wurde, hatte längst begriffen, und voll von Impressionen ging er erneut ans Werk. Mit Vehemenz setzte er sich für den neuen, modernen Stil ein, übernahm ihn bei seinen Schülern und übertrug ihn auch auf den Formationstanz.
Ein solch neuartiger Formations-Slowfox mit seinem eleganten Capriccio modischer Überschneidungen bildete 1932 den Clou des „Ball der Goldenen Blätter" im Berliner Hotel Esplanade, eines offiziellen Festes der Tanzschule Sommer, das alljährlich als Ausklang der Saison Schüler und Freunde des Hauses vereinte. Mit den Berliner Paaren Lütgen, Honeck, Arendt und Ramlau (so die Reihenfolge auf einem Photo) vom Norddeutschen Casino und Blau-Orange Club war Reinhold Sommer ein neuer, großartiger Wurf geglückt, der ihm unbeschreibliche Ovationen einbrachte, wie mir Walter Honeck bei einem Berlinbesuch nachträglich berichtete.
Etwa zur gleichen Zeit erstand in Carl Ernst Riebeling, Kassel, eine Persönlichkeit, die ebenfalls aus der Geschichte des Formationstanzes nicht mehr wegzudenken ist. Etwa seit 1930 interessierte er sich sehr für den Formationstanz, bemühte sich um ihn und hat sich in nachfolgender Zeit um ihn ungemein verdient gemacht. Historische und Formationstänze waren seine besonderen Hobbys schon seit Beginn seiner Tanzlehrerlaufbahn, angeregt und gefördert durch seine bühnentänzerische und ballettmäßige Ausbildung. Auch ihm kam schon damals der Gedanke, den Gesellschaftstanz durch Formationen noch besser zur Geltung zu bringen. Nach vielen Überlegungen und Schwierigkeiten, aber mit dem ihm eigenen Idealismus, stellte er in den frühen 30er Jahren zum ersten Mal auf einem Gesellschaftsabend eine Formation auf die „Beine", worüber die großen Kasseler Presseorgane begeistert berichteten.
In den späteren 30er Jahren versuchten auch andere, es ihm gleich zu tun. Vor allem auf größeren Veranstaltungen konnte man z.B. in Bad Kissingen eine Tangoformation von Heinz Rolff, Hamburg, oder auch eine Walzerformation von Karl Schäfer jun., Köln, bewundern.
Die eigentlich große Zeit von Carl Ernst Riebeling kam aber erst nach dem 2. Weltkrieg, in der er nicht nur als maßgebender Experte für historische Tänze über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt wurde. Viele Male erfreuten sich Auge und Ohr an den bezaubernden Formationen und der historischen Wiedergabe alter Tänze nicht allein auf Deut schen Meisterschaften in der Kasseler Stadthalle, die er immer mit neuen Ideen und choreographischen Einfällen auszustatten wußte. Das Ehepaar Riebeling hat durch eine erstaunliche Vielseitigkeit und durch ein unerschöpfliches Reservoir allein mit diesem Kapitel sich mit einem bedeutenden Abschnitt in das Buch der Tanzsport-Historie einge tragen. Was Kassel bei seinen Großveranstaltungen auf diesem Sektor in der Zeit vor und nach dem letzten Weltkrieg gezeigt hat, ist auch hinsichtlich der Bandbreite so einmalig, daß es festgehalten zu werden verdient.
Im Rückspiegel muß zusammenfassend festgestellt werden, daß die Geschichte des Formationstanzes in Deutschland auf eine beträchtliche Zeitspanne zurückblicken und England insofern nicht als Schrittmacher angesehen werden kann. In England war man offensichtlich unter dem Einfluß des seit 1930 aufstrebenden klassischen Balletts (Marie Rambert, Ninette de Valois und Sadler's Wells Ballett) den Formationen bzw. dem Formationstanz besonders aufgeschlossen, da er dem künstlerischen Formwillen der Engländer entgegenkommt. Diese Variante des Tanzsports moderner Prägung führt Ripman im März 1932 mit vier Paaren zum ersten Mal im Londoner „Astoria" vor. Von dieser Veranstaltung wurde nicht nur in englischen Fachblättern, sondern auch in deutschen Fachzeitschriften berichtet und als besonderes Ereignis interpretiert.
Einer der Präsidenten der königlichen Tanzakademie, zugleich Ehrenmitglied, sowie Mitgestalter und Schöpfer des englischen Stils im Gesellschaftstanz, und auch Förderer des englischen Balletts, Philip John S. Richardson, berichtet in seinem Buch „A History of English Ballroom Dancing", daß dieses Experiment zu einem großen Erfolg wurde. Von dieser Zeit an wurde der Formationstanz sehr populär und war besonders im Norden Englands sehr verbreitet. In der Folgezeit wurden häufig Formationsturniere ausgetragen. Später wurden auch Wettbewerbe dieser Art und schließlich auch Meisterschaften auf den Blackpool-Festivals ab 1937 und bei den wiedereröffneten STAR-Meisterschaften ab 1938 durchgeführt. Die Veranstaltung im Londoner „Astoria" und später noch im „Salon Bai" muß schon ein Ereignis besonderer Art gewesen sein, denn Philip Richardson beschreibt es in seinem Buch ausführlich.
Im Gegensatz zu Deutschland zögerte man in England nicht, die Voraussetzungen zu schaffen, um den Formationstanz auch wettbewerbsmäßig in den Turniersport zu integrieren. Hier liegt zweifellos der große Verdienst der Engländer.
Auf dem 1. Formationswettbewerb 1937 in Blackpool - nicht 1936, wie man irrtümlich gelegentlich lesen kann - siegten überraschend die Dänen. Ein Beweis dafür, dass man bereits auch in anderen Ländern sich dieser Sparte angenommen hatte. Die Dänen konnten sich übrigens auch 1948, 1950 und 1964 in Blackpools Siegerliste eintragen.
Die optisch schöne Variante des Tanzsports hatte ihre Uraufführung in Berlin zum Zeitpunkt des ersten Wettbewerbs in Blackpool längst hinter sich gebracht. Jedoch fehlten hierzulande turniermäßig einige Voraussetzungen, da der Formationstanz in erster Linie durch eine choreographisch fachliche Seite bestimmt wurde.
In diesem Zusammenhang muß auch die irrige Auffassung korrigiert werden, daß eine Verbreitung des Formationstanzes in Deutschland nicht hätte Platz greifen können, da seit 1935 die Fäden nach England weitgehend gerissen seien. Nie zuvor fuhren Amateure und Professionals in diesem Umfang nach England, nie zuvor häuften sich in Deutschland die Internationalen Turniere und Meisterschaften, zu denen auch stets englische Paare über den Kanal kamen, und nie zuvor gab es soviel laufend gute Kontakte zu England. Auf diese internationalen, zumal unpolitischen Begegnungen legten die damaligen Machthaber großen Wert, um das demolierte Image aufzupolieren. Der Ein- und Ausreise waren keine Schranken gesetzt. Die damals knappen Devisen wurden von Dipl.-Ing. Franz Büchler, seit Ende 1935 Präsident der FIDA und des RPG, zwar nicht reichlich, aber besorgt.
Doch bis zum ersten deutschen Formationsturnier verging noch eine Weile, bis schließlich und endlich am 2.12.1962 in Wiesbaden vom jungen Schwarz-Gold Club, der 1968 mit dem traditionsreichen Blau-Orange fusionierte, der Startschuß fiel.
Das erste internationale Formationsturnier führte bereits kurz darauf am 15.12.1962 der nicht weniger traditionsreiche Grün-Weiß Club in der Kölner Sporthalle mit einem dänischen, englischen und dem Team des gastgebenden Clubs durch. Dieser Kölner Club, allen voran Karl Breuer, ehern. Deutscher-, Europa- und Weltmeister, hat sich um das Zustandekommen der Formationsturniere sehr verdient gemacht. Durch Hinzunahme der lateinamerikanischen Disziplin wurde die Programmscala 1961 bei den Formations-Wettbewerben in Blackpool folgerichtig erweitert. Eine deutsche Beteiligung war noch nicht gegeben. Das von Constance Grant trainierte Sheffield-Team siegte hier.
Bis zur ersten Deutschen Formationsmeisterschaft war Zeit und Geduld notwendig, um einen erforderlich gemeinsamen Nenner zu finden. Die Tanzschule Dresen, Düsseldorf, übernahm die Initiative und führte sie, damals noch im Auftrage des ehemaligen DAT, am 21.3.1964 in der Neusser Stadthalle durch. Diese Meisterschaft wurde noch nicht von allen Teams in beiden Disziplinen getrennt ausgetragen. Es kamen daher beispielsweise auch gemischte Formationen (MIX) zur Durchführung. In den kommenden Jahren folgte dann in dieser Sektion eine geradezu stürmische Aufwärtsentwicklung nicht nur in Deutschland.
Da der Formationstanz auch bei weiteren Nationen Eingang und vermehrtes Interesse gefunden hatte, wurden Überlegungen hinsichtlich der Durchführung internationaler Meisterschaften angestellt. Ein Anfang mußte damit logischerweise einmal gemacht werden.
Eine erneute Zeitspanne wurde verständlicherweise benötigt, um schließlich die ersten offiziellen Europameisterschaften 1967 in Berlin und die ersten Formations-Weltmeisterschaften 1973 in New York durchführen zu können, an denen teilzunehmen bislang nur wenige Nationen in der Lage waren. Die Schwierigkeiten eines Starts lagen und liegen vor allem im Kostenbereich. Da bis zum März 1973 in New York vergleichbare Meisterschaften nicht existierten, galten die für die ganze Welt offenen Britischen Formations-Meisterschaften und Wettbewerbe in Blackpool als eine Art inoffizieller Weltmeisterschaften.
Neben anderen haben jedoch zwei deutsche Clubs mit ihren Trainern als Pioniere auf diesem Sektor Überragendes geleistet, der NC Harburg im HTB mit Wolfgang Opitz und TD Rot-Weiß Düsseldorf mit Günter Dresen. Mit den sich ständig mehrenden Erfolgen führten sie ihre Teams nicht nur nach Blackpool und eilten seit 1967 bzw. 1970 bei den internationalen Meisterschaften von Sieg zu Sieg, von Triumph zu Triumph und führten seitdem die Weltrangliste an. Mit dem Gewinn der 1. und 2. WM in New York und Düsseldorf in beiden Disziplinen durch die beiden deutschen Clubs mit nachfolgend verdienten höchsten sportlichen Ehrungen durch den Bundespräsidenten und den DTV setzten sie ihrem nimmermüden Wirken die Krone auf und sind aller Welt zum Vorbild geworden.
Weit über ein halbes Jahrhundert Formationstanz in Deutschland, konservativ in der Art, modern aber in der Form, das stetige Training begleitet von unsagbaren Mühen und doch so beglückend, ästhetisch und erzieherisch zugleich, hier die seltene Synthese von Sport und Kunst, eine Brücke vom Gestern zum Heute und das Bindeglied zum Morgen. Selbst den distinguierten Zuschauer reißt es vom Stuhl, denn der Formationstanz ist hinreißend schön und wird es auch bleiben!